Tastsinn - So ertasten wir die Welt
Die Haut ist ein wichtiges Sinnesorgan: Ob Gras unter den Füßen, ein Steinchen im Schuh oder das Streicheln einer Hand – über den Tastsinn nehmen wir unsere Umwelt wahr.
Mit einer Oberfläche von bis zu zwei Quadratmetern und Milliarden von Zellen ist die Haut unser größtes Organ. Als Schutzschild erfüllt sie eine Menge wichtiger Funktionen. Temperatur, Druck, Vibration, Kitzeln und Jucken sowie Schmerz: Unmengen an Nervenzellen in der Haut ermöglichen eine feine Sinneswahrnehmung.
Der Tastsinn ist die erste Sinnesfunktion, die der Mensch entwickelt: Das Empfinden beginnt bereits ab dem zweiten Schwangerschaftsmonat beim Embryo. Später erkunden Kinder ihre Welt, indem sie ihre Umgebung mit den Händen ertasten. Studien1 haben gezeigt, dass der Tastsinn maßgeblichen Anteil an der kognitiven Leistung besitzt. Die Beschaffenheit der Dinge zu erspüren, erleichtert es, abstrakte Ideen besser zu verstehen.
Etwa 640.000 Tastpunkte befinden sich in unserer Haut. Besonders viele Tastkörperchen sitzen an den Fingerspitzen, den Fußsohlen, den Lippen und in der Handfläche. Die Landung eines Schmetterlings auf der Haut oder ein kräftiger Händedruck: Spezialisierte Rezeptorzellen verzeichnen selbst kleinste Druckunterschiede. Tiefer in der Lederhaut und im Unterhautfettgewebe liegen die Lamellenkörperchen, die auf stärkeren Druck reagieren. In der Lederhaut befinden sich auch Sinneszellen, die auf Wärme, Kälte und Schmerz ansprechen.
Reize werden sortiert
Damit die Berührungsreize unser Gehirn nicht überfluten, filtern Rezeptoren unsere Wahrnehmungen. Dafür sind unterschiedliche Vertreter zuständig. Die eine Sorte meldet ein Gefühl nur bei dessen Beginn, wenn es sich ändert oder aufhört. Bleibt der Reiz konstant, melden die Rezeptoren ihn aber nicht weiter. So nehmen wir beim Tasten schnell geringste Unterschiede wahr, spüren aber nicht dauerhaft das T-Shirt auf unserer Haut. Jeder kennt das quälende Empfinden, wenn ein Steinchen in den Schuh geraten ist. Für die Wahrnehmung, die uns vor einer wundgescheuerten Stelle schützt, sind andere spezielle Rezeptoren verantwortlich. Diese melden den Reiz penetrant weiter. Durch das Zusammenspiel beider Gruppen von Rezeptoren gelingt es dem Gehirn, unwichtige Reize auszublenden und sich auf die Wahrnehmungen zu konzentrieren, die in der jeweiligen Situation wirklich wichtig sind.
Vom Fühlen zum Wohlfühlen
Die Wahrnehmung über die Haut beschert wahre Wohlfühlmomente: Bei Berührungen und beim Streicheln schüttet der Körper verschiedene Hormone aus, die nicht nur das Wohlbefinden steigern, sondern sogar den Blutdruck senken können. Dazu zählt etwa das Kuschelhormon Oxytocin, welches Vertrauen und die Bindungsfähigkeit fördert. Bei Frühgeborenen wurde beobachtet, dass sich die Überlebenschance deutlich verbessert, wenn die Babys häufig für längere Zeit mit direktem Hautkontakt auf die Brust der Eltern gelegt werden.2
Kleine Hände – clevere Helfer
Frauen haben meist gefühlvollere Hände als Männer. Der Grund: Kleine Hände besitzen genauso viele Sinneszellen auf den Fingerkuppen wie größere – diese liegen bei ihnen aber deutlich dichter beisammen.
Besonders wichtig und häufig stärker ausgebildet ist der Tastsinn bei Blinden. Menschen mit Sehbehinderung berichten oft, dass mit dem Schwinden des Augenlichts ihr haptisches Empfinden sensibler geworden ist. Durch das Ertasten von Gegenständen können sich Betroffene ein erstaunlich konkretes Bild ihrer Umwelt machen, zum Beispiel Gesichter tastend erkennen. Auch das Lesen der Blindenschrift Braille ist nur durch den Tastsinn möglich. Diese geschärfte Fähigkeit nutzt die Initiative „Discovering Hands“: Speziell geschulte sehbehinderte Frauen sollen zur Verbesserung der Brustkrebsfrüherkennung beitragen.
1 Nature Scientific Reports 2018. Publikation: Confidence is higher in touch than in vison in cases of perceptual ambiguity Merle T. Fairhurst, Eoin Travers, Vincent Hayward and Ophelia Deroy. Nature Scientific Reports 2018. Philosophy of Mind and Cognitive Neuroscience group. LMU – Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft.
2 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34038632/Randomized Controlled Trial N Engl J Med 2021 May 27
Bildquelle: GettyImages fcscafeine